Aus der Sittengeschichte der Völker: Über das Rechtsleben in Aprilien

Achtung vor den Mitmenschen aufbringen: Dieses noble Ziel dürfte alle Menschen guten Willens einen. Doch schwierig wird es, wenn ungewohnte Sitten unser Gefühl für Anstand und Gerechtigkeit verletzen. So erging es einem Reisenden, der einst das Fürstentum Aprilien aufsuchte, um sich mit den Rechtstraditionen der Untertanen vertraut zu machen. Wir zitieren aus einem zeitgenössischen Reisebericht.

… Da beobachtete er an einem Orte, wie ein Schultheiß ſich dem Beſitzer eines Fuhrwerkes näherte. Der hatte ſeinen Wagen ſammt Pferd ſo an der Straße angehalten, daß die übrigen Fahrzeuge kaum daran vorbeyfahren konnten. Der Schultheiß hieß ihm weiterzufahren.

Doch was machte der unverfrorene Wagenbeſitzer? Er entgegnete, daß der Schultheiß ihm keine Anweiſungen geben dürfe. Denn in dem Moment, worin der Schultheiß ihm das Weiterfahren befahl, da verlor der Schultheiß ſeyn Befugniß. Er sei nemlich partie de conflict geworden! So behinderte das Fuhrwerk noch lange den Verkehr auf dieſer aprilianiſchen Straße.

Im Reich der Libertät

Dem Reiſenden wurde allſeits beſtätigt, daß ein solcher Vorfall durchaus häufig vorkommet in Aprilien, und daß ſolches eben aus dem ſtarken Rechtsempfinden der Aprilianer erwachse. Der Aprilianer reclamire ſeine angeborene Libertät, ſo zu handeln und ſo zu reden, als es ihm beliebt.

Die Kehrſeite dieſer Freiheitsliebe erlebet, so erzählet man im Lande, nicht letztlich das weibliche Geſchlecht. Man berichtete dem Reiſenden von einer wohllöblichen Dame, die fleißig auf einem Stück Land arbeitete. Doch ward ſie eines Tages eines maskirten Misanthropen gewahr, der Pfeil und Bogen in Anschlag hielt und ohn Unterbrechen auf die Dame richtete.

Vom Schultheiß und von vielen Unterthanen ward ihr expliciret, warum niemand etwas gegen den Misanthropen und ſeyn Drohen unternehmen werde. Denn dieſer genieße die Freiheit, ſeinen Pfeil und ſeinen Bogen in beliebiger Weiſe zu nutzen. Einſchreiten könne der Schultheiß erst, wenn der Pfeil abgeschossen und auf dem Wege zu ſeinem Ziele sei.

Im Reich der Utilität

… Nebst der Libertät ſpricht der Aprilianer eben ſo gern von der Utilität, der Nützlichkeit, die auch dem kecksten Unterthanen unterſtellet wird – oder doch zumindest den Alten. Darum kommt es immer wieder vor, daß ein nichtswürdiger Aprilianer einen Landsmann etwa mit einer Axt gewalttätlich niedermacht. Man möchte meinen, daß der Halunke nun einer Strafe wie dem Gefängniß oder der Verbannung unterzogen werde, auf dass er ſeyn Unheil nicht weiter treiben könne, jedenfalls nicht in Aprilien, zum Schutze der Unterthanen vor dem Böshaftigen.

Doch nein: Wie dem Reiſenden auch auf mehrmaliges Nachfragen verſichert wurde, entblößet man den Missetäter gar nur von seiner Axt. Dieſes ſei Strafe genug, denn es habe wohl viel Zeit und harte Arbeit gekostet, ſich eine ſo ſchöne Axt leisten zu können. Außerdem ſei eine Verbannung ſinnlos, da das betreffende Subject ſich incognito wieder ins Fürstenthum ſchleichen könne. Alsbald könne er ſich ſelbstredend abermals eine Axt beſorgen, denn man wolle ja wohl kaum den Handel auf Äxte controlliren.

Solange er nicht erneut nach dem Leben seiner Landsleute trachte, dürfe er die Axt nach Belieben und zur Mehrung der Wohlfahrt des Fürstenthums einſetzen. Das ist die vielgerühmte und daher protectirte Utilität der Unterthanen. Und zu den armen Seelen, die dieſer Libertät und Utilität Beute werden, betet man auf gut Latein: geto verit.

Der Urgrund der aprilianischen Sitten

Darum machte unser Reiſender ſich an ſolcherley Fragen: Wie haben ſich ſolche Bräuche etabliretet. Und welchen Bedacht der Landesherr dabey treibet.

Der Reiſende nahm folgende Belehrung an. Der Fürst von Aprilien hat ſeine Macht ſchon längst einer Regentſchaft übertragen, die zehn Köpfe zählet, und deren einer er geworden ist. Die Regentſchaft hält Hof weit weg outre-mer, zahlet ihre Berather und Geſandten, und gibt ſich leutſelig. Doch hinter vorgehaltener Hand ſagte man, daß manche Berather das Fürstenthum nicht ſo ſehr für ein Land anſehen, in dem man gut und gerne leben könne, ſondern allein für eine Quelle an Pfründen.

Andere Gewährsmänner des Reiſenden hielten es für anſcheinender, daß die Regentſchaft wohl die Sittlichkeit und das Rechtsleben der Unterthanen zum Besseren wenden wolle, jedoch die Alten unter den Unterthanen ſelbst der Grund dafür ſeien, daß ſich im Fürstenthum trotz aller guten Reden und Erlasse nichts änderte.

Das Volk der Grundstücksbesitzer

Dieſe nemlich hätten ſich im Laufe von gar zwei Jahrzehnten Eigentumes daſelbst befleißigt und ſchützten es mit aller Macht gegen Ankömmlinge. Nun ist es in Aprilien unterſagt, Eigentum an Grundſtücken zu erwerben, denn das Fürstenthum hat den Aprilianern auferlegt, all ihr Gut in Aprilien für gemeyn zu erklären. Darin die Aprilianer bey ihrem Zuzuge auch eingewilliget haben.

Doch hat sich die Sitte verbreitet, nurmehr den Beſitz an ſolchem zu behaupten – zumal an ſchönen, zentral gelegenen Parcellen. Die Legitimation dieſer Anſprüche liege darin, daß die Beſitzer dieſe Grundſtücke ſelbst urbar gemacht und bebaut hätten. Die Grundſtücksbeſitzer handelten nach einem ius auctoris principalis, auch wenn ſie ſelbst den Ausdruck meiden. Vielmehr verweiſen ſie in foro auf ihre Utilität, von der man bey Ankömmlingen ja nicht ohne Weiteres ausgehen könne.

Ein Fremder, der ſich in Aprilien anzuſiedeln wünſchet, höret von den Rufen der Regentſchaft und mancher Unterthanen: Es wird ihm darin eine ergötzliche Participation an der Libertät in Ausſicht geſtellet, mit allgegenwärtigen Occasionen, ſeine Kenntniß von Gottes Schöpfung zu theilen. Allein, die dem Ankömmling verhießene Libertät ſtößet gegen das cartel der Grundſtücksbeſitzer, die ſich ihrer gegenſeitigen Anſprüche verſichern.

Alsbald enteilt ein Fremder, dem seine Fremdheit allzu oft auf die Naſe gebunden ward, dem Fürstenthum wieder. Sich frei zu bewegen wird ihm nicht vergönnet, und die Grundſtücke, die er ſelbst noch beſitzen könnte, liegen am Rande und beglücken ihn wenig.

Von den Institutiones des Fürstenthums

… Unser Reiſender möchte ſeinen Beſuch im Fürstenthum aber doch nicht endigen, ohne näher nach den Institutiones gefragt zu haben, mit derer Hülfe die Regentſchaft ihre Unterthanen zu friedſchaffender Redlichkeit anhalten möchte.

In principio gilt in Aprilien, daß die Regentſchaft die Unterthanen ihre Geſchäfte ſelbst regeln läßt. So werden die Schultheiße von den Unterthanen erkoren. Fehlt ein Schultheiß in ihren Augen in ſeiner Amtsführung, dann drohet ihm eine ſchändliche Reëlection, die ihn des Amtes berauben mag. Darum, mutmaßet ſo mancher, ſcheuen viele Schultheiße vor einer weſentlichen opprobation der Alten.

Die Alten haben ihrerſeits Anlaß, den Schultheißen ihre Anerkennung und ihre Hülfe zu verſagen. Machtvolle Schultheiße könnten ſich ja gegen ſie und ihre Libertät alswohl gegen ihre Anſprüche richten. Darum misstrauen ſie auch der Regentſchaft, die einen eigenen Codex und ihr ergebene, maskirte Schultheiße einſetzet, um die ſchlimmsten Missſtände im Fürstenthum zu wehren. Sie misstrauen auch der Regentſchaft Verſuche, die Zahl der Regentſchaftsmitglieder zu vergrößern und den Kreis der Unterthanenſchaft zu modificiren. So hält die Regentſchaft dafür, daß auch den Berathern der Regentſchaft Angehörigkeit des Fürstenthums zuſtehet, und letztlich allen Kindern Gottes, gar ohne Anſässigkeit im Fürstenthum und ohne jegliche Utilität.

Und ſchließlich kann der Reiſende den Alten nicht abſprechen, daß ſie das Fürstenthum gegen ſolche Fremdlinge vertheidigen, die gänzlich vom Eigennutze getrieben die Verhältnisse im Fürstenthum zu ſtören ſuchen. Sie lassen Stolz auf ihr Thun erkennen und Freude am Trutzen. Allein, ſo raisoniret der Reiſende, könnte das Fürstenthum doch ein paar Zäune gegen die Störenfriede errichten. Jenes aber ſei ein affront wider die Libertät, erhaltet er zur Antwort. Wohl mag es ihm ſcheinen, daß manche Wächter nicht durch Zäune entbehrlich werden wollen?

Von merkwürdigen Sitten und Nöthen

Die geneigte Leſerin eben ſo wenig als der geneigte Leſer werden dem Reiſenden einen Vorwurf machen können, daß ihm von ſeinem Aufenthalte in Aprilien das Haupt ganz confusus geworden ist. Was hat itzo Geltung im Fürstenthum und unter den Unterthanen? Hat ein von Allen beſchworener Communismus der lex oligarchiae eternae weichen müssen? Wer ſoll am Reichthume des Landes teilhaben dürfen? Stirbt das Fürstenthum aus, wenn es nicht neu peupliret wird? Droht der Auszug der Unterthanen in fremde Reiche? Wird ein neuer dictator benevolens die Verhältnisse richten müssen?

Dem Verarbeiten des Erlebten und dem studio fremder Reiſeberichte wird der Reiſende in ſeiner Kammer noch viel Zeit widmen müssen.

Ziko van Dijk, 1.4.2021