Wikipedia und Armut: Für wen die Wikipedia doch nicht so kostenlos ist

Im Jahr 2013 erschien eine Dokumentation für eine Werbe-Kampagne der Wikimedia Foundation. Ganz unumstritten war die Kampagne nicht. Aber der Film selbst hat es in sich: Er zeigt, was es heißt, wenn Wikipedia-Leser in einem Township in Südafrika aufwachsen. Warum er den Film gemacht hat und welche negativen Reaktionen es gab, das erzählt nun der Produzent Victor Grigas in einem Interview.

„Nein“, sagt ein Junge im Film, man sei zwar frei, aber nicht wirklich frei. „Wer in Armut aufwächst, der ist nicht frei.“ Victor Grigas ist ein amerikanischer Videographer und Wikipedianer, der seit längerem für die Wikimedia Foundation arbeitet. Er fühlte sich an seinen litauischstämmigen Vater erinnert, der in Armut aufgewachsen sei. Das sei ein starkes Motiv für ihn gewesen, einen Film über Wikipedia-Leser in Armut zu machen. Aber wie kam Victor zu dieser Gelegenheit?

Keine Internet-Gebühren für Wikipedia-Besuche

Es gab einmal eine Initiative namens Wikipedia Zero. Der Gedanke dabei: Zwar ist der Zugang zur Website Wikipedia kostenlos (wie auch zu vielen anderen Websites). Aber für den Internetzugang selbst muss man natürlich bezahlen. Für viele Wikipedia-Leser in den reichen Ländern des Nordens ist das mittlerweile kaum noch ein Problem. Man bezahlt ein bisschen Geld für die Flatrate, monatlich oder jährlich, und das Problem ist vom Tisch.

Schulklasse in der Sinenjongo High School in Joe Slovo Park, South Africa

Ganz anders sieht das aus für Menschen, die für jede Minute Online-Zeit oder für eine bestimmte Datenmenge zahlen müssen. Deswegen hat die WMF Internetanbieter in armen Ländern aufgefordert: Schafft doch ein Angebot für eure Kunden, bei dem man diejenige Zeit nicht bezahlen muss, in der man die Wikipedia besucht.

Das Programm war stets umstritten, weil es gegen die Netzneutralität verstoße. Demzufolge sollen Daten-Inhalte ohne besondere Bevorzugung im Internet verschickt werden, egal, von wem die Daten-Inhalte stammen. Führt ein Wikipedia-Zero-Programm also nicht zu einer Benachteiligung anderer Websites, hinter denen keine große gemeinnützige Organisation aus Nordamerika steckt?

Wikipedia Zero hatte in einigen Ländern einen gewissen Erfolg und wurde mittlerweile eingestellt. Wie dem auch sei: Das ursprüngliche Problem, dass arme Menschen sich den Internet-Zugang nicht immer leisten können, gibt es noch immer.

Eine große Story

Victor Grigas arbeitete für die WMF und hatte viele Videos aufgenommen, in denen Wikipedianer über ihren persönlichen Bezug zur Wikipedia erzählen. Solche Aufnahmen hat die WMF in ihren Spenden- und anderen Kampagnen verwendet. Aber 2013 sagte Victors Chef: Such dir mal eine einzelne große Story aus und mache was damit. Victor bekam damals einen offenen Brief zu sehen, den eine Schulklasse aus Kapstadt an die Internetanbieter Südafrikas geschickt hatten. Ob auch sie in den Genuss eines Wikipedia-Zero-Programmes kommen könnten?

Mit einer Regisseurin, Charlene Music, und einem kleinen Team hat Victor schließlich die Schulklasse im Armenviertel Joe Slovo Park besucht. Schließlich wurde aus seinen Aufnahmen ein berührender Film, in dem die Schüler von den Herausforderungen berichten, die sie im Leben erfahren. Aber sie nennen auch stolz ihre beruflichen Ziele, sie erzählen von den kleinen Freuden des Lebens und eben auch davon, was die Wikipedia für sie bedeutet.

Ein wenig unglücklich

Die Umstände, unter denen der Film erschienen ist, erweisen sich im Nachhinein als etwas unglücklich. Er war Teil einer Kampagne. Die Kampagne gibt es nicht mehr. Sie war umstritten. Der Titel ist ziemlich nichtssagend: „Knowledge for Everyone“. Aber der Film sagt immer noch sehr viel. Ich habe ihn öfters in Seminaren gezeigt und mit den Studis besprochen. Ihre Reaktionen waren manchmal sehr heftig, wegen der bestürzenden Armut, die man sieht.

Darüber habe ich mal vor Jahren auf einer Wikimania mit Victor Grigas gesprochen. Er bestätigte, dass manche Menschen den Film mit Schuldgefühlen sehen. Nun habe ich mir, im Sommer 2022, ein Herz genommen und ein Interview mit Victor online aufgenommen. Aus der geplanten Viertelstunde wurde über eine Stunde. Ein paar kleine Wiederholungen und Abschweifungen habe ich herausgeschnitten. Wir haben uns auf den Film und seine ungewöhnliche Entstehung sowie auf die Reaktionen konzentriert, ohne allerlei aktuelle Lehren daraus zu ziehen. Der Film von 2013 wirkt auch so eindringlich genug.

Bei dieser Gelegenheit habe ich mich dann auch entschlossen, den Film mit deutschen Untertiteln zu veröffentlichen. Das hatte ich schon vor Jahren probiert, aber leider hatte ich keine Originaldatei mit den englischen Untertiteln bekommen können. Letzten Endes habe ich den Originalfilm ohne Untertitel genommen und auf meinem Youtube-Kanal mit englischen und deutschen Untertiteln versehen. Wer sie in weitere Sprachen übersetzen möchte, kann mich gern kontaktieren.

Warum sollte man sich aber heute noch mit einem fast 10 Jahre alten Kurzfilm beschäftigen? Weil er ein historisches Zeitdokument geworden ist, und weil er Probleme anspricht, die nicht einfach so verschwunden sind. Vor allem, weil er zum Nachdenken anregt. Und darum finde ich es immer noch eine gute Idee, den Film gemeinsam bei Wikipedia-Treffen, im Edit-a-thon oder mit Teilnehmern eines Bildungsangebotes zu schauen. Und auf jeden Fall sollte man genug Zeit für die Diskussion danach einplanen.

Ziko van Dijk 6.8.2022